Mögliches Pilotprojekt als Test zur Regulation der Wolfspopulation in Graubünden.
Die beiden Bündner Regierungsräte Mario Cavigelli und Marcus Caduff haben Ende Juni 2021 BAFU Direktorin Frau Dr. Katrin Schneeberger zu einer Begehung auf Alp Stutz nach Splügen eingeladen. Moderiert wurde der Anlass mit einer gut zwanzig-köpfigen Delegation von Plantahof Direktor Peter Küchler.
Wie kaum eine andere Schafalp in Graubünden ist Alp Stutz im Fokus des Konflikts zwischen Landwirtschaft und Grossraubtieren. Nach grossen Rissschäden im Sommer 2019 wurden umfangreich in den Herdenschutz investiert. Trotz den eingeleiteten Massnahmen kam es letzten und bereits diesen Sommer zu Rissen. Auf Alp Stutz sömmern derzeit auf rund 450 ha Weideland 110 Mutterkühe (ohne Abkalbungen), Jung- und Galtvieh sowie rund 350 Mutterschafe.
Gemeindepräsident Christian Simmen stellte zu Beginn die Gemeinde Rheinwald vor und ging näher auf die Situationen und Begegnungen mit Wölfen im vergangenen Winter ein. So kam es neben zahlreichen Wildtierrissen am Talboden, zu Sichtungen in den Siedlungen und auch zu Begegnungen mit Menschen. Kasper Nicca, seit 44 Jahren Aktuar und Alpverantwortlicher von Alp Stutz und einer von sieben Genossenschaftern betonte gegenüber der BAFU Direktorin: «Es darf nicht so weit kommen, dass der Pächter aufgibt und keine Schafe mehr bringt.» Philipp Jacobi aus Meikirch bei Bern ist dieser Pächter und das im dritten Jahr. Letzten Sommer zählte er 43 offizielle Risse, die trotz Herdenschutzkonzept und ständigen Optimierungen (weitere Herdenschutzhunde, stärkere Zaungeräte) stattfanden. Das Eintreiben am späteren Nachmittag in den Nachtpferch sei bei Regen lebensgefährlich, einzelne versteckte Schafe blieben immer wieder zurück und wurden meist gerissen. Dies waren nach Jacobi gezielte Angriffe durch den Wolf.
Beratung wird Herdenschutzkonzepte weiter ausarbeiten
Die Herdenschutzberatung am Plantahof wurde inzwischen auf insgesamt sechs Regionalberater erweitert, erklärte Batist Spinatsch als Leiter Beratung. Ziel sei es, ein einzelbetriebliches Herdenschutzkonzept für alle Kleinviehalpen im Kanton Graubünden einzuführen. Ein Ampelsystem verdeutliche die Stufe der umgesetzten und wirksamen Massnahmen. Alp Stutz steht derzeit auf gelb, da beispielweise eine komplette Umzäunung unmöglich sein wird und gewisse Sektoren nicht schützbar sind. Trotz Massnahmen gäbe es nach Spinatsch Risse und diese wiederum fänden keine offizielle Anerkennung.
Als Amtsleiter vom Amt für Jagd und Fischerei (AJF) sind für Adrian Arquint die Grenzen möglicher Massnahmen erreicht. Die derzeitige Regulation sei nicht praktikabel, denn derzeit lebten rund 50 Wölfe im Kanton deren Bestand sich alle zwei Jahre verdopple. Regierungsrat Marcus Caduff ergänzte, dass die Regulation als dritte Herdenschutzmassnahme gesehen werden sollte. Beim Rot- und Steinwild würde diese bereits erfolgreich praktiziert. Eine angemessene Verteilung von Wolfsrudeln gemäss KORA-Bericht sieht Cavigelli bereits kantonal erreicht.
Unverhältnismässiger Mehraufwand für alle Beteiligten
Aus Sicht von Wildhüter Markus Egle sei die Situation rund um Wolfrisse unberechenbar geworden und gehe persönlich sehr nahe. Es bestünde zu viel Bürokratie, zu hohe und zu viele Anforderungen seitens des BAFU. Alles zusammen brächte Zusatzaufgaben und Mehraufwand für die vorwiegend Teilzeitangestellten beim AJF sowie bei den Landwirten und beim Alppersonal. «Es wurde bereits viel geleistet», betonte er. Peter Küchler nannte es eine «Schönwetteradministration, die in Graubünden nicht mehr möglich ist.»
Philipp Jacobi zeigte auf, dass ein Ereignis 2020 mit einem Riss für den Wildhüter einen Tag Arbeit beschert hat. Auf Alp Stutz gab es 43 Ereignisse im letzten Sommer. Wildhüter Michael Eichhof beschrieb den Sommer davor mit später Alpentladung und folglich vielen Rissen im gleichen Muster durch M92 – einer Art Handschrift. Die Wölfe lernten aus jedem erfolgreichen Riss, so Wildhüter Egle. Sofortmassnahmen hätten hierbei möglicherweise geholfen, ist er überzeugt. Er wünschte sich daher einfache Lösungen bei der Problematik. Sein Vorgesetzter Adrian Arquint ergänzte, dass letztes Jahr 250 Risse im Kanton erfolgten.
Schilderungen aus der Praxis und Realität
Für Christa Buchli, Präsidentin Bündner ÄlplerInnenverein ist die mittlerweile etablierte Mutterkuhhaltung eine grosse Herausforderung für das Alppersonals. Bei den Älplern sei der Herdenschutz so weit angekommen und würde so gut es geht umgesetzt. Vermehrt gäbe es aber Rückmeldungen von unruhigen und aggressiven Mutterkühen in Zusammenhang mit der Wolfpräsenz. An die Adresse des BAFU frage sie sich wer dies verantworten könne und wolle, wenn es so zu Unfällen mit Menschen kommt.
Martin Caduff aus Lumbrein präsidiert die neu gegründete Fachkommission Grossraubtiere beim Bündner Bauernverband. Er zeigte sich trotz Auseinandersetzung mit der Thematik Wolf und Einhaltung von Vorgaben immer wieder überrascht. Der Wolf unterscheide nicht zwischen Heim- und Alpbetrieb. Lange hätten Mutterkuhalter ihre Tiere auf Umgänglichkeit selektiert. Zum Schutz der Herde vor dem Wolf benötige es allerdings andere Charaktere von Mutterkühen. Die schlimmste Bedingung seitens der Landwirte sei nach Caduff die fehlende Handhabe und Perspektive. «Uns sind die Hände gebunden.» Gestärkt wird er von Silvan Caduff, Präsident Bauernverein Surselva. Dieser berichtete von einem Vorfall mit einem Riss auf dem Nachbarbetrieb. Eine Woche nach Alpbestossung sei ein Rind nach Sichtung von Wölfen ausgebrochen und war nicht mehr aufzuhalten. «Hier darf man nicht wegschauen», so Caduff.
Katrin Schneeberger erklärte, dass diese genannten Schilderungen und Äusserungen bei ihr Spuren hinterlassen haben. Aber es seien auch grosse Erwartungen an die komplexe Maschinerie Bundesbern gestellt worden. Sie wünsche, dass die Rolle des BAFU auch verstanden würde. Es gelte kompromissfähige Lösungen zu erarbeiten auch im Austausch mit den anderen Interessensvertretern. Vom Naturpark Beverin schilderte Reiner Schilling den Wunsch aus dem Gemeindevorstand Rheinwald und der Landwirtschaft sich mit Wolfbefürwortern auszutauschen. Der Naturpark wird diesen Vorschlag aufgreifen ein Treffen organisieren und moderieren. Peter Küchler stellte fest, dass es kaum noch Äusserungen zur Ausrottung vom Wolf gäbe. Von Seiten der Befürworter sei allerdings kein Entgegenkommen spürbar. Er forderte, dass diese einen Schritt auf die Landwirtschaft zugehen und der dringend nötigen Regulation zustimmen.
Katrin Schneeberger versprach einen Beitrag für einen möglichen Austausch in die Wege zu leiten.
Pilotprojekt als Chance für Bund und Kanton
Adrian Arquint sieht einen Lösungsansatz im von Graubünden erarbeitetem betriebsspezifischen Herdenschutzkonzept. Peter Küchler brachte zudem die Idee eines Pilotprojektes vor, mit dem mögliche Massnahmen getestet und überwacht werden könnten. Diese wären dann für die Ausarbeitung eines neuen Jagdgesetzes hilfreich.
Batist Spinatsch verdeutlichte die bisherige Zusammenarbeit mit dem Bund anhand von Beispielen wie die Regionale landwirtschaftliche Strategie oder die Klimaneutrale Landwirtschaft Graubünden. Graubünden habe hierbei immer Hand geboten und die Zusammenarbeit zwischen den kantonalen Ämtern sei sehr gut, gerade beim Herdenschutz. Giochen Bearth, Amtsleiter Amt für Lebensmittel und Tiergesundheit (ALT) ist ein Pilotprojekt gut und wichtig. Auch er zählte erfolgreiche Beispiele (Moderhinkesanierung, Hof- und Weidetötung) aus seinem Amt auf. Es sei im föderalen System schwierig, schnell zu einer Lösung zu kommen, daher benötige es gewisse Freiheiten. «Graubünden ist gegenüber dem Bund loyal», betonte er und bot Hand mit den Worten: «Ex oriente lux.» – Aus dem Osten (kommt) das Licht. Für Daniel Buschauer, Amtsleiter ALG ist die Kenntnis der Zusammenarbeit wesentlich, die Koexistenz von Menschen und Wolf das Ziel. Ein Pilotprojekt ist die Vorbereitung auf die neue Gesetzgebung – klein, regional begrenzt mit einer gewissen Dynamik. Graubünden sei seiner Ansicht nach in der Lage dies umzusetzen. Dazu brauche es Vertrauen seitens BAFU.
Regierungsrat Marcus Caduff wünschte, dass das Pilotprojekt zustande gebracht wird. Es sei sehr sinnvoll, wenn das BAFU mit dem Kanton Graubünden hier aktiv werden kann. Mario Cavigelli berichtete, dass die Regierungskonferenz der Gebirgskantone RKGK besser verstehen will, wie sich die Wolfpräsenz auf alles auswirkt. So könnten ebenfalls Rückschlüsse auf nationale Politik gezogen werden. Bei einem Pilotprojekt werde Graubünden auf jeden Fall eine Rolle spielen, ist er überzeugt. Nach Christian Simmen sei ein Pilotprojekt die Chance für das BAFU in drei bis fünf Jahren zur Einsicht nach einer Regulierung zu gelangen. Dazu möchte er auch Wolfbefürworter einladen.
Katrin Schneeberger sieht Pilotprojekte als interessante Instrumente, die Anfang und Ende haben. Es gelte die gesetzlichen Grenzen zu analysieren, das dauere ihrer Einschätzung nach. Sie wünschte sich ebenso eine Prüfung für eine Ausdehnung dieses Pilotprojektes auf die Gebirgskantone.
Regierungsrat Mario Cavigelli dankte an Beteiligten für deren konstruktive Beteiligung und dem Alppersonal für die hervorragende Verpflegung. Er versprach Katrin Schneebergen mit Ideen aus Graubünden wieder auf sie zurückzukommen.